Stärker als alle Worte sind die Bilder, jene Magie des Nordens, die am stärksten natürlich im eigenen Erleben zu spüren ist: wenn der Fels sich im Zwielicht am Fjord titanenhaft aus dem Wasser reckt, wenn hoch oben der Schleier vor dem gelben Fleck verweht und eine tröstende Sonne die Ödnis des Fjells in Farben erblühen lässt, wenn der Sturm die finsteren Wolken wie Dämonen jagt oder an einem windstillen hellen Glückstag am Rande des Eismeers das Himmelsgewölbe wie eine gläserne Glocke über dem Horizont hängt. Der Süden mag gleißend wirken. Der Norden hat das ehrliche Licht, das die Dunkelheit nicht leugnet und mit ihr verbündet ist.

Norwegen – das ist „der Weg zum Norden“. Kühl betrachtet, ist er schier endlos, steinig, weithin unwegbar. Noch vor wenigen Jahrzehnten war er in voller Länge allein mit dem Schiff zu bewältigen. Das Land ist mit dem Meer verwachsen wie kein anderes auf der Erde. „Rumpfflächenland“, wie die Geographen sagen, mit in sich geschlossenen Ackerfluren und Höhenunterschieden bis zu hundert Meter, hat Norwegen nur am Oslofjord und in der Gegend von Trondheim. Nahezu alles andere ist Gebirge aus Urgestein, mit Tälern, in denen die Baumgrenzen niedrig und Orte und Gehöfte wie Oasen liegen.

Fast alle Städte sind Küstenstädte, und wer sich von der Straße, auf der er fährt, nicht täuschen lässt, der begreift schon nach wenigen Kilometern: Dieses Land ist weithin noch Wildnis, nordische Wildnis freilich, wuchernden Dschungels. Sie ist durchlüftete Natur, die man angesichts firngekrönter Gipfel, deren Weiß das Grün der Wälder pointiert, ohne Scheu vor Pathos, und auch topographisch korrekt, als „erhaben“ bezeichnen darf. Wer sich in ihr umschaut, wird ohne Mühe verstehen, warum dieses raue Land den Charakter seines Volkes prägte, Menschen in Urberufen; Bauern, Fischer. Holzfäller, Jäger, die den Stolz des souveränen Einzelgängers mit Gemeinsinn vereinbarten Individualität und Demokratie sind den Norwegern buchstäblich von Natur aus zugewachsen.

Die Empfindungsstärke, die dieses Land hervorruft, die Liebe zur Heimat, von der die Nationalhymne erzählt – sie spiegeln sich in den Bildern und in den Zitaten von Liv Ullmann und Knut Hamsun, von Bjornstjerne Bjornson und Fridtjof Nansen. Jene Magie aber, die den Fremden nach Norden zieht, bedarf keiner weiteren Erklärung. Sie besteht darin, dass der Weg nach Norden den Menschen auch zu sich selbst führt.

Autor: Erich Hartmann

Die Magie Norwegens